Skip to main content

Naiver Konstruktivismus

Disclaimer: Dieser Artikel ist ein Rant, keine wissenschaftliche Abhandlung.

In letzter Zeit lese ich immer häufiger, dass wir alle verantwortlich dafür sind, wie wir die Welt sehen und dass wir, um die Welt zu verändern doch nur unseren Blick auf die Welt ändern müssten und so weiter.

Frage ich nach, wird das in der Regel mit Konstruktivismus begründet und lässt mich einigermaßen ratlos zurück. Um es kurz zu machen: Das ist eine unglaublich naive Interpretation von Konstruktivismus.

Konstruktivismus ist die neue Magie, Komplexität das neue Glaubenssystem.

Naiver Konstruktivismus

Der in meinen Augen naive Konstruktivismus folgt der einfachen Logik:

  • jeder Mensch konstruiert sich seine individuelle Realität
  • jeder Mensch ist für seine Handlungen selbst verantwortlich
  • ergo ist jeder Mensch auch für seine Konstruktion verantwortlich

Das ist ebenso trivial wie falsch - wird aber witzigerweise vor allem von Menschen gerne genutzt, die anderen den geeigneten Umgang mit Komplexität vermitteln.

Verantwortung

Die Natur kennt keine Verantwortung. Die Natur kennt nur Geschehen: Dinge passieren und beeinflussen sich. Ich muss sogar noch weiter gehen: die Natur kennt gar nichts, die Natur ist Geschehen.

Die Zusammenhänge dieses natürlichen Geschehens verstehen wir Menschen dank der Wissenschaft immer besser (es bleiben natürlich nach wie vor - heute - unerklärbare Phänomene, aber das soll jetzt nicht Gegenstand sein).

Die Idee, dass irgendetwas in der Natur ein “Regelkreis” ist, ist eine menschengemachte modellhafte Konstruktion. Es gibt in der Natur keine Regelkreise, es gibt nur Geschehen und darauf folgendes Geschehen (oder auch nicht) und so weiter.

Das Blöde an der Konstruktion des Regelkreises ist, dass man nun als Mensch auf die Idee weiterer Konstruktionen kommt - wie der der “Verantwortung”. Ich sage es noch einmal: die Natur kennt keine Verantwortung.

Von Verantwortung zur Schuld

Das Fatale an der Konstruktion der Verantwortung, die aus diesem oben genannten naiven Konstruktivismus folgt, ist dass er unweigerlich zum Konstrukt der Schuld führt.

Ich muss aus Sicht der selbsternannten Konstruktivisten die Verantwortung tragen, auch für Dinge, bei denen die Wissenschaft schon längst erkannt hat: das kann ich gar nicht. Diese Sicht folgt direkt der protestantischen Ethik von “jeder ist eines eigenen Glückes Schmied” und wird heute durch viele Angebote im Coachingbereich (und der positiven Psychologie) unterstützt.

Problematisch ist dabei vor allem, dass sie dem Prinzip EKSSL folgt: Es Klingt So Schön Logisch. Und damit verleitet es dazu, nicht weiter zu hinterfragen, sondern auf dem Niveau des “Du bist halt noch nicht so weit” stehenzubleiben, wenn jemand das anders sieht oder zu hinterfragen wagt.

Und wer noch nicht so weit ist, der trägt selbst die Verantwortung: er oder sie ist schuld.

Verantwortung konstruieren

“Manieren machen uns zu Menschen” sagt Galahad in Kingsmen. Ich denke, es sind nicht nur die Manieren - auch wenn sie einen großen Teil dazu beitragen -, es sind vor allem zwei Fähigkeiten: erstens die Fähigkeit, Konzepte zu konstruieren, und zweitens die Fähigkeit, als Gemeinschaft solidarisch zu handeln.

Sowohl der Konstruktivismus als auch Verantwortung sind Konstruktionen. Diese konzeptionelle Rekursion zu erkennen macht das Verstehen von Konstruktivismus aus (ich vermute, deshalb wollten Maturana und Varela nicht “Konstruktivisten” genannt werden).

Die Verantwortung auf die naive Weise zu konstruieren und jedem Individuum gleichermaßen zuzusprechen ignoriert völlig die Wechselwirkungen, die im sozialen Miteinander stattfinden. Sie ignoriert auch völlig die Unterschiedlichkeit von Individuen, obwohl gerade diese ja betont werden soll.

Und das ist der Moment, wo die Manieren vielleicht bleiben, aber die beiden Fähigkeiten, die uns auch zu Menschen machen, verloren gehen.

Kaputtkonstruiert

Lange Rede, kurzer Sinn: die auf den ersten Blick logische Delegation der ultimativen Verantwortung für das eigene Leben aus dem Konstruktivismus abzuleiten, folgt einer naiv-libertären, antisolidarischen Ideologie und zeigt klar, dass Konstruktivismus zwar methodisch eingesetzt, aber keinesfalls verstanden wurde.